„Dehnen“ – ja oder nein?

Macht das Dehnen vor oder nach dem Sport überhaupt Sinn? Wann dehne ich mich? Wie dehne ich mich richtig? Wann darf ich mich nicht dehnen? Immer wieder werden wir von Sportlern - Amateuren wie Profis gleichermaßen - auf das Thema „Dehnen“ angesprochen.

Ein klares „Jein“?

Das Thema wird in der Tat kontrovers diskutiert. Zahlreiche wissenschaftliche Abhandlungen konnten keinen Nutzen des Stretchings nachweisen. Folglich wurde bei einigen Sportverbänden das Dehnen komplett aus dem Trainingsprogramm gestrichen. Andererseits gibt es aber auch Studien, die einen deutlichen Effekt des Stretchings beschreiben. Was also tun, wenn nicht wirklich jemand weiß, was sinnvoll oder sogar schädlich, beziehungsweise leistungsmindernd für den Einzelnen ist? Bleibt es bei einem klaren, aber nichtssagendem „Jein“, oder gibt es eine Richtschnur? Wir wollen in diesem Beitrag eine Zusammenfassung über den wissenschaftlichen Stand des Dehnens geben.

Dehntechnik ist nicht gleich Dehntechnik

Bei unserer Betrachtung über den Sinn oder Unsinn des Dehnens ist auch die Dehntechnik zu berücksichtigen. Gibt es eine Dehnform, die den anderen vielleicht überlegen ist? Grundsätzlich werden folgende Techniken unterschieden:

  • Statisches Dehnen (langes Halten einer Dehnposition)
  • Postisometrisches Dehnen (Dehnen nach vorheriger Muskelanspannung)
  • Dynamisches Dehnen (federnde Dehnübungen) 

Welche der folgenden Effekte können nach bisherigen Erkenntnissen durch ein Dehnprogramm erreicht werden?

1. Vergrößerung des Bewegungsausmaßes:

„Das dynamische Dehnen erwies sich über einen Zeitraum von zwei Wochen im Hinblick auf die Verbesserung der maximalen Beweglichkeit den anderen Dehntechniken als hoch signifikant überlegen“. (Wydra et al., 1999)

2. Beseitigung von Muskeldysbalancen (z. B. Muskelverkürzungen beheben):

Diese sogenannten „Muskelverkürzungen“ sind teilweise zweckdienliche Anpassungen bzw. Schutzmechanismen des Organismus. Bei Verletzungen oder Störungen in einem Gelenksystem stellen die Erhöhung oder Verringerung des Muskeltonus einen Schutz vor Überlastung dar. Die scheinbar „verkürzten“ Muskeln erlangen ihre natürliche Dehnbarkeit spontan wieder, sobald die Störung im Gelenksystem behoben ist. Diese neuromuskulären Reaktionen sind durch Dehnen nicht zu beeinflussen (Freiwald und Engelhardt, 1999). Bei Tonuserhöhungen, die nicht auf einer Verletzung oder Störung des Systems beruhen, ist eher ein adäquates Krafttraining der abgeschwächten antagonistischen Muskelgruppen sinnvoll (Klee, 1995 u. 2003).

Das bedeutet Kräftigung der Gegenspieler-Muskulatur der verkürzten Muskelgruppen (z.B. Kräftigung der Gesäßmuskulatur bei verkürztem Hüftbeuger, Kräftigung der Bauchmuskulatur bei verkürzten Rückenstrecker).

3. Verhinderung / Linderung von Muskelkater und Verletzungsprophylaxe:

Bisherige Untersuchungen konnten keine relevanten positiven Effekte auf die Verhinderung von Muskelkater bzw. Muskelverletzungen zeigen (Herbert und Gabriel, 2002; Wiemeyer, 2002). Aufgrund der Definition von Muskelkater - wir sprechen von Mikrorissen (Mikrorupturierungen) in der Muskelfaser - ist unserer Ansicht nach ein Dehnprogramm bei bestehendem Muskelkater sogar kontraproduktiv.

4. Verbesserung der sportlichen Leistungsfähigkeit

Sportarten, für die eine maximale Beweglichkeit notwendig ist (z. B. Ballett, Gymnastik etc.) ist die Sinnhaftigkeit des statischen Dehnens eindeutig und somit eine adäquate Routine zum Aufwärmen.  Aber auch der negative Effekt, den statisches Dehnen auf Sportarten hat, bei denen es auf Schnellkraft und explosive Krafteinsätze ankommt, ist wissenschaftlich bewiesen: „Es zeigte sich ein eindeutig negativer Effekt des Dehnens auf die Explosivkraft“ (Rosenbaum und Hennig, 1997; Wiemeyer, 2003). Begert und Hillebrecht (2003) attestierten in ihrer Studie dem dynamischen Dehnen keinen mindernden Effekt auf die Explosivkraft.

Wie und wann also Dehnen?

Aus den oben berichteten Ergebnissen können unserer Ansicht nach folgende Schlussfolgerungen gezogen werden:

  • Statisches Dehnen nur bei Sportarten, bei denen maximale Beweglichkeit gefordert ist (z. B. Rhythmische Sportgymnastik, Ballett)
  • Dynamisches oder statisches Dehnen, mit anschließenden sportspezifischen Bewegungen bei Aktivitäten, die Schnell- und Explosivkraft verlangen (z. B. Fußball, Tennis, Volleyball)
  • Dehnen vor dem Sport als Teil des Aufwärmprogramms geeignet
  • Nach dem Sport ist ein regeneratives aktives Auslaufen vorzuziehen